Die Luft ist erfüllt vom Aufschrei rostiger Bremsen vorbeifahrender Güterwagons und im Hintergrund schnurrt ein Container-Kran für die Lagerung chemischer Gefahrenstoffe, welcher umspielt wird vom sanften Hupen vorbeischleichender Lastkraftwagen. In der Nase liegt ein beißendes Duftgemisch, synthetisiert aus dahinschmelzenden Autoreifen, unterirdischen Teerölbecken und vorbeiwehenden Dämpfen einer nahgelegenen Wurstfabrik.
Inmitten dieser olfaktorisch und auditiv sehr ansprechenden Umgebung steht eine Ansammlung roter Backsteine, deren Formation nach zu Urteilen, die Zeit zur besten Jenga-Spielerin aller Zeiten kürt. Immerhin haben diese Steine zwei Weltkriegen getrotzt und sich im 20. Jahrhundert einen Ruf als „dreckigster Ort Hürths“ erarbeitet.
Für uns wurden die Steine ein Symbolbild für „etwas ins Rollen bringen“ , „Steine in den Weg gelegt bekommen“ und „Schlafen wie ein Stein“. Manchmal weckten sie auch einfach nur Angst, gepaart mit hoffnungsvollem Optimismus und präventivem Abklopfen der Decke über unseren Köpfen.
Wir haben uns diesen Ort in Hürth ausgesucht, weil wir einen eigenen Freiraum erschaffen wollten, der zwischenmenschlichen Austausch fördert und als Experimentierfläche dienen sollte. Gerade in der heutigen Zeit ist der Austausch zwischenmenschlicher Erfahrungen wichtiger denn je. Wir erleben eine Phase des gesellschaftlichen Umbruchs, die viele Fragen mit sich bringt. Viele Menschen sind verunsichert durch Globalisierung, Klimakrise, Corona, Migration und einer sich verändernden Arbeitswelt und mittlerweile merkt auch fast jede*r, dass die Politik in den letzten Jahren so aktiv war wie ein Koala, treu nach dem Motto „chillin’ like a villain“. Jeder Mensch lebt in seiner eigenen Bubble und durch Austausch mit Menschen, die man sich nicht ausgesucht hat, wird deutlich, dass Persönlichkeitsentwicklung eine Art soziales Schach ist. Der Austausch von Menschen mit unterschiedlichsten Hintergründen ist essentiell, um die komplexen Themen der heutigen Zeit zu reflektieren und trägt dazu bei, dass sich jedes Individuum seiner Verantwortung auf dieser Welt bewusst wird.
Unsere Verantwortung nun, ist euch zu erklären, warum wir das Projekt in Hürth aufgeben müssen, oder auf hürthisch: „Woran hat et jelegen?“
Innerhalb von zwei Jahren haben wir die Halle so dermaßen mit Leben gefüllt , dass die Frage immer näher rückte, ob wir nicht die neuen Ludolfs auf DMAX werden sollten. Ehrlich, die Halle platzt gefühlt aus allen Nähten und wurde nur durch regelmäßige Hallen-Care Wochenenden an ihre physischen Grenzen erinnert. Für uns war das ein klares Signal, dass wir das Gelände käuflich erwerben müssen und kurzerhand wurde dafür auch alles in die Wege geleitet.
Wir starteten mit der Motivation einer Schneckenarmee, die auf ein Salatfeld voller köstlicher, grüner Blätter zu eiferte. Auf dem Weg zum Feld eröffnete sich ein Graben, dieser Graben nannte sich: Hürde der Bürokratie. Dieser Graben war gefüllt mit Staub, der sich aus Schnecken vergangener Tage und leeren Worthülsen zusammensetzte. Mit jedem Schritt weiter in die Grube wurde unser Schneckenschleim trockener und zäher.
Uns wurde beigebracht, dass auf dem Gelände 15-100 ( 15-100 LOL zu der range) Tonnen Teeröl in unterirdischen Becken gelagert ist.
Uns wurde erzählt, dass wir uns mit dem Kauf verantworten würden, diese Altlasten zu übernehmen.
Uns wurde verkündet, dass der schwimmende Ölteppich seit 60 Jahren unter dem Boden schlummert und nur auf den richtigen Aladin wartet, der ihn aus dem Untergrund befreit.
Uns wurde von Stiftungen gesagt, dass sie uns gerne unterstützen, es aber hinsichtlich der Altlasten einfach ein zu hohes Risiko bergen würde.
Uns wurde erklärt, dass man die gesamte Fläche 50 Meter tief auskoffern müsste, um einer gründlichen Beseitigung gerecht zu werden. 50 fucking Meter!!11, ich trau mich nicht mal vom 10 Meter Turm in ein Becken voller weiches Wasser zu springen. Danach wird der verseuchte Boden dann woanders eingelagert und wird vermutlich ein neues Schicksal des Vergessenwerdens erleiden.
Mit jedem dieser Sätze ließ der Unmut unseren Schneckenschleim voller Motivation, auf die salzigen Pfade der Realität tropfen. Uns wurde schnell klar, dass die Wirtschaft einfach mal wieder „Too Snail to Jail“ war und sich nun niemand mehr für das im Boden schlummernde verantworten möchte. Unternehmen haben abgecashed, ihren Müll hinterlassen und nun soll die Gesellschaft sich um die Beseitigung kümmern (oder einfach Gras drüber wachsen lassen), weil sich niemand dafür verantworten will.
Was bedeutet Verantwortung überhaupt? Eine ganz nüchterne Definition erklärt: Verantwortung ist die mit einer bestimmten Stellung verbundene Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass alles einen möglichst guten Verlauf nimmt, das jeweils Notwendige und Richtige getan wird und möglichst kein Schaden entsteht.
Also genau das Gegenteil von dem, was Politik und Wirtschaft in den letzten Jahren betrieben haben. Das gegenwärtige Denken ist noch immer stark geprägt von Lösungen des 20. Jahrhunderts und demnach fällt es uns als Gesellschaft schwer adäquate Lösungen für die Probleme der heutigen Zeit zu entwickeln. Ganz klassisch wagt die Politik keine Experimente und betreibt munter däumchendrehend „politics as usual.“ Als Spitzenpolitiker schickt es sich, keine starken Meinungen zu haben und revolutionäre Überzeugungen werden abgeschliffen durch Kompromisse. Wird zu viel angeeckt, werden die Medien schon für die nötige Aufregung sorgen und einen Shitstorm regnen lassen.
Was erwarten wir auch? Die Aufgaben unserer globalisierten Zeit sind zu groß für Funktionsträger*innen in der Politik. Um Veränderung einzufordern, benötigt es einen Basisdruck von unten heraus und aus der Mitte der Gesellschaft. Unsere Verantwortung als Mensch ist es am Bau der allgemeinen Welt der Werte mitzuwirken. Einfluss zu nehmen auf die politische Denkungsart, an den Vorstellungen und Maßstäben der Menschheit zu arbeiten, da sie durch Denken wandelbar sind. Durch unsere zunehmende Machtentfaltung sind wir, als Gattung homo sapiens, verantwortlich für alles Verletzliche auf dieser Welt. Unsere Verantwortung auf dem Planeten leitet sich nicht aus einem „Sollen“ ab, was sich aus rechtlichen oder gesellschaftlichen Normen ergibt, sondern aus unserem KÖNNEN heraus. Je mächtiger und einflussreicher wir werden, desto verantwortlicher werden wir für unseren Planeten.
Bürger*innen und Politik müssen einander wieder zuhören lernen und ehrlich miteinander sein. Politik muss tun, wofür es sie eigentlich gibt: Interessenvertretung und Interessenausgleich. Nicht das Durchsetzen von Einzelinteressen, sondern ausgewogene Werte-Entscheidungen unter sich konkurrierenden gesellschaftlichen Interessen zu treffen, ist und bleibt Aushandlung der Politik.
Aktuelle Themen und Kernprobleme sollten in einem triangulären Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft besprochen werden, damit gute Politik für die Bürger*innen und den Fortbestand unserer Gesellschaft gemacht wird. Rollen und Zuständigkeiten müssen transparent gehalten werden, Werte müssen gemeinsam erarbeitet, gelebt und in Zusammenarbeit verantwortet werden. Helfen werden uns dabei Ehrlichkeit, Wertschätzung, Verantwortung gegenüber unserem Planeten, Offenheit, Respekt und Toleranz.
Achja und keine Sorge, unser Schneckenschleimvorrat füllt sich grade wieder auf und ist bereits auf der Suche nach dem nächsten Feld voller köstlich, knackiger Salatköpfe. Denn so snail geben wir nicht auf !!
Konkret heißt das: 60 Augen und Ohren (und hoffentlich mit allen Leser*innen dieses Newsletters ein Paar mehr) sind aufgesperrt, die jeden freien Quadratmeter in und um Köln inspizieren und auf sein Potential für ein neues Hürth untersuchen. Zwangsversteigerungskataloge sind bestellt und wir versuchen – bisher vergeblich – Frau Reker ans Telefon zu kriegen (würden wir bloß Christoph Gröner heißen). Das Equipment für Festivals und Open Airs wartet perfekt sortiert im Schwerlastregal auf den nächsten Einsatz, denn unsere Herzen warten sehnsüchtig auf den Tag, an dem wir euch alle wieder begrüßen können – in Hürth, im Wald, unter der Brücke, neben den Schienen, an der Autobahn, auf Bergen und in Tälern, auf der Brache am Rhein oder in der neuen Halle mit Zentralheizung.